Wiederholungstäter

Und jährlich grüßt das Murmeltier. Es verkommt so langsam schon zu einer Gewohnheit, dass diesem Blog bei jedem längeren Russlandaufenthalt neues Leben eingehaucht wird. Gerade eben hat sein drittes Leben begonnen: nach den „Sibirischen Anekdoten“ und den „Provinzanekdoten“ folgen nun die „Anekdoten aus der großen Stadt“ – der Untertitel bleibt, wie gehabt und bezeichnend, gleich.

Seit gestern Abend, 23.00 Uhr, bin ich in Moskau. Für das nächste halbe Jahr wird die russische Hauptstadt meine neue Heimat sein. Wie jedes Mal ist meine Freude, endlich wieder in Russland zu sein, von dem kleinen und größeren alltäglichen Chaos, unfreundlich scheinenden und seienden Gesichtern und dem Wohlklang der russischen Sprache umgeben zu sein, groß. Euphorie kam allerdings zu keinem Zeitpunkt auf. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass sich meine oftmals bis zum Fanatismus ausgeartete Liebe zu Russland mit der Zeit immer mehr abstumpft. Oder aber darauf, dass meine letztjährigen Erfahrungen in Voronezh, unzählige Berichte von russischen Freunden über die politische und gesellschaftliche Situation seither, sowie die letzten erfolgreichen „Demodernisierungsmaßnahmen“ von Seiten verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure meine bis vor gut anderthalb Jahren noch existente überwiegend positive Einstellung zu Russland gehörig erschüttert haben.

Dennoch freue ich mich auf die kommenden Monate. Ich werde versuchen, mit vorwiegend kleineren Einträgen den von mir erlebten Moskauer Alltag sowohl schriftlich, als auch fotografisch, festzuhalten. Doch auch Neues aus der russischen Politik und meine Sicht der Dinge sollen, lässt es die Zeit denn zu, hier ihren Platz finden. Anregungen, Fragen und Kritik von Eurer Seite sind – wie immer – sehr willkommen.

Ein Fazit in Bildern

Die negative Grundstimmung des vorhergehenden Eintrages kann ich nicht leugnen. Deshalb nun etwas Schönes, Leichtes – etwas, das auch mich immer wieder von der politischen und gesellschaftlichen Situation ablenkte: Die letzten paar Wochen in Voronezh und Umgebung in Bildern.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Addio, Voronezh – Auf Wiedersehn, Russland. Ein Fazit.

Mein schlechtes Gewissen ließ es in den letzten Wochen nicht einmal zu, in der Lesezeichenliste auf den Link zu meinem Blog zu klicken. Meinen Vorsatz, regelmäßig Neues aus Voronezh über den Äther gen Westen zu schicken, habe ich leider nicht eingehalten. Nicht, dass ich dazu keine Lust gehabt hätte. Und erst recht nicht, dass es in den letzten zwei Monaten nichts Erzählenswertes gegeben hätte. Ich hatte schlicht und einfach so gut wie keine Zeit dafür. Und wenn ich Zeit hatte, dann fehlte es an Energie. Sich jeden Tag mit der russischen Politik und Gesellschaft zu beschäftigen ist, wie sich herausgestellt hat, äußerst kräftezehrend. Besonders dann, wenn sich Zustände und Entwicklungen der Logik und dem gesunden Menschenverstand entziehen; besonders dann, wenn die abstrakte Macht des Staates (der wir überall ausgesetzt sind) eine konkrete Form annimmt und einen negativen Einfluss ausübt; und besonders dann, wenn der Glaube an die Macht des Volkes und der Gesellschaft Stück für Stück demontiert wird.

Nun neigt sich ein nächster Russland-Aufenthalt seinem Ende zu – und es ist an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Ich verlasse Voronezh im Zwiespalt, mein Seelenzustand schwankt zwischen Genugtuung und Enttäuschung, zwischen Zufriedenheit und Besorgnis. Genugtuung und Zufriedenheit deshalb, weil ich wohl noch nie zuvor innerhalb von drei Monaten so viel gelernt und so viel Neues erfahren habe wie seit meiner Ankunft in Russland Ende Mai. Ich habe einen Einblick in die Arbeit einer Menschenrechtsorganisation erhalten, Seminare besucht und mich (endlich) gründlich mit der Menschenrechtsthematik auseinandergesetzt; ich habe mir beigebracht, selbstbewusster und selbständiger durch das Leben zu gehen, mich von Schwierigkeiten jeglicher Art nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und über Sachen (laut) nachzudenken, die mir bis dahin selbstverständlich zu sein schienen. Ich werde die russisch-finnische Grenze in gut einer Woche als Mensch überqueren, der von den vergangenen drei Monaten viel für das Leben mitnimmt.

Enttäuschung und Besorgnis deshalb, weil mich die Beschäftigung mit der oben genannten Menschenrechtsthematik, im Besonderen mit deren Nicht-Einhaltung und Verletzung, zutiefst ernüchtert hat. Ich bin enttäuscht von der Politiker- und Beamtenkaste; was nun nicht heißen soll, dass ich früher große Hoffnungen in die Politik und das Beamtentum gelegt habe – im Gegenteil. Dennoch glaubte ich daran, dass die fundamentalsten Rechte in unseren Breiten nicht dem Machterhalt und/oder wirtschaftlichen Interessen willen geopfert werden. Zumindest wollte ich daran glauben. Mit jedem Tag hier in Russland allerdings wuchsen die Enttäuschung, die Wut und der Zorn – und zwar nicht nur auf die Politik Russlands, die in den vergangenen Monaten mehr für den Niedergang des Landes geleistet hat, als in den Jahren zuvor, sondern auch auf jene der Europäischen Union und deren Organe, sowie jene der einzelnen Staaten, die vor Schönfärberei und bewusster Ignoranz nur so strotzt. Anders kann ich es mir einfach nicht erklären, warum wir nicht in der Lage sind, Maßnahmen gegen Menschenrechtverletzungen als auch Verstöße der Europäischen Menschenrechtskonvention zu ergreifen, die weiter gehen, als ein vorsichtiger Fingerzeig. Gepoltert wird häufig, gehandelt so gut nie. So scheiterten die geplanten wirtschaftlichen Sanktionen gegen Weißrussland am Widerstand Sloweniens, das seine Interessen in Gefahr sah – Interessen in Form eines Hotels einer slowenischen Hotelkette in Minsk. Und überhaupt verhindern zu viele Ansprüche, dabei vorwiegend wirtschaftlicher Natur, ein mutiges Einschreiten westlicher Politiker und/oder Institutionen. Dies bereitet mir Sorgen – genau so, wie die Ineffizienz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der UNO.

Nur gegen die Politik und hohe Institutionen zu wettern ist allerdings falsch. Noch eine Komponente spielt besonders hier in Russland eine große Rolle: die Gesellschaft und deren Meinung. Ich wage es, den allgemeinen Zustand der russischen Zivilgesellschaft als einen der Hauptgründe für die Entwicklungen seit dem Machtantritt Putins zu bezeichnen. Obwohl der Eindruck vermittelt wird, dass sich Russland endlich gegen zunehmende Repressionen und den Rückgriff auf stalinistische Methoden wehrt, sieht die Wirklichkeit anders aus. Man darf nicht vergessen, dass sich ein Großteil der Russen nicht einmal passiv gegen das Regime auflehnt; man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit für eine Haftstrafe gegen „Pussy Riot“ ist; man darf nicht vergessen, dass viele davon überzeugt sind, die Opposition und die Proteste würden vom Ausland aus gelenkt und finanziert (Stichwort: ausländische Agenten); und man darf nicht vergessen, dass Xenophobie in all ihren Formen und die Angst vor allem Neuem und vor Veränderungen in der konservativen russischen Gesellschaft tief verankert ist. Besonders das ist besorgniserregend. Denn die Regierung kann ausgewechselt werden, das Volk allerdings nicht.

Ich verlasse das Land deshalb in Sorge und in Ungewissheit, was in nächster Zeit passieren wird und wie es sein wird, wenn ich – so hoffe ich – in ein paar Monaten zurückkehre. Wie es scheint, überwiegen die negativen Gefühle. Doch der Schein trügt. All die positiven Momente, die Erfolgserlebnisse und neu gewonnene Freunde wiegen all das Negative auf. Und Russland liebe ich nach wie vor.

Adé, Herrschaft des Volkes – Willkommen im Polizeistaat. Teil 2.

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben soll oder nicht; ich hege große Zweifel daran, dass es mir gelingt, all jenes in Worte zu fassen, was in den letzten Tagen in Russland passiert ist; und ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was ich derzeit erlebe, richtig und der Wahrheit entsprechend vermitteln kann. Aber gut.

Nach dem ersten Teil nun eine kleine Wende hin zum Realen – ein kleiner Schwenk in Richtung russischer Wirklichkeit, unter dessen Einwirkung ich jenen Eintrag schrieb. Die Chancen stehen gut, dass die heutigen Zeilen nüchterner und bedachter ausfallen, als jene vor drei Tagen. Dennoch: an der Grundaussage des vorhergehenden Textes ändert sich nichts.

Vor drei Tagen fühlte ich zum ersten Mal, was es heißt, machtlos der Macht gegenüberzustehen. Für den Samstag, 9. Juni, war in Voronezh eine Protestkundgebung anberaumt; die Stadtregierung allerdings verwehrte den Organisatoren die Genehmigung. Der offizielle Grund: Noch eine Veranstaltung neben dem momentan laufenden Platonov-Festival wäre einfach zu viel des Guten. Man soll die Voronezhzer ja nicht überfordern.

Darauf entschieden die Organisatoren, die Protestkundgebung nicht als Demonstration, sondern als „guljan’e“, als „Spaziergang“, durchzuführen. Ich ging hin – und zwar nicht, um direkt teilzunehmen, sondern um zu beobachten. Außer einer dezent am Rucksackriemen befestigten weißen Schleife aus Serviettenpapier wies auch nichts darauf hin, dass ich mit den Protestierenden sympathisiere.

Das Bild, das sich mir bot, war surreal. Auf dem Platz hatten sich schon einige Dutzend Menschen eingefunden, es wurden weiße Schleifen und weiße Luftballons verteilt. Gleichzeitig, so schien es, sei der Stadtverwaltung kurzfristig in den Sinn gekommen, in der Mittagshitze noch die Blumenbeete bewässern und den Platz einem gründlichen Frühjahrsputz unterziehen zu müssen. So drehte ein zu einer Kehrmaschine umfunktionierter Traktor unermüdlich seine Runden und näherte sich regelmäßig und so gar nicht subtil den anwesenden Demonstranten, um ihnen den Dreck direkt vor die Füße zu kehren. Im Übrigen war es äußerst interessant, den Bewässerungsvorgang zu beobachten: In hohem Bogen schoss das Wasser aus dem Schlauch des Tankwagens, sodass höchstens die Hälfte des Wassers in den Blumenbeeten landete, ein Großteil allerdings die Demonstranten „erfrischte“. Parallelen zu Wasserwerfern? Wohl rein zufällig. Aber wie nett, dass sich die Stadt um das Wohl ihrer Bürger sorgt, dachte ich mir. Dem nicht genug, rückte darauf noch eine Armada älterer Frauen aus, um die durch die sehr innovative Form der Bewässerung entstandenen Pfützen in Richtung der spärlich vorhandenen Gullys zu kehren; diese befanden sich – ja, richtig erraten – inmitten der sich versammelnden Teilnehmer. Es war ein schönes Gefühl, mitten im Dreckwasser zu stehen.

Mir war unheimlich. Es war die im Verhältnis zu den Teilnehmern große Anzahl an Polizisten, die dieses Gefühl hervorrief – vor allem aber die anwesenden Einsatzkräfte der Spezialeinheit „Extremismus“ (deshalb auch „Eshniki“ genannt), die alles beobachteten, filmten und fotografierten. Als sich dann die Demonstranten in Bewegung setzten, um, wohlgemerkt schweigend, keine Parolen skandierend und ohne Plakate, über den zentralen „prospekt Revoljucij“ (Prospekt der Revolution) zu spazieren, mischten sich Polizisten wie „Eshniki“ unter die Menge. Und ich entschied mich, die Straßenseite zu wechseln und mit regelmäßigen Blicken über die Schulter nach hinten schnurstracks ins Büro zu gehen. Es war, wie sich später herausstellte, die richtige Entscheidung. Es wurden zwar keine Teilnehmer festgenommen, einige „Eshniki“ aber sprachen mehr oder weniger klar Drohungen gegenüber den Demonstranten aus. Der Druck, den die Macht auf das Volk ausübt, war die ganze Zeit über spürbar. Und machte mir zum ersten Mal richtig bewusst, wie schlecht es um die Freiheit in diesem Land steht.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Heute aber ist ein Feiertag. Den‘ Rossii. Der Tag Russlands. Ein Teil des Volkes freut sich darüber, nicht arbeiten zu müssen und schwankt, beseelt von zahlreichen erfrischenden Getränken, durch die Straßen der Stadt. Ein anderer Teil allerdings nahm den Feiertag zum Anlass, in der russischen Hauptstadt an der zweiten Auflage des „Marsches der Millionen“ – einer Demonstration gegen unfaire Wahlen und das herrschende System. Um es kurz zu fassen: von Seiten der Macht wurde nichts unversucht gelassen, die Veranstaltung zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren. Zuerst das lange Tauziehen um die Genehmigung; dann die Versuche des FSB, potentielle Teilnehmer aus den Provinzen daran zu hindern, nach Moskau zu gelangen; gestern die Razzien in den Wohnungen verschiedener leitender Oppositioneller; heute deren Vernehmung, genau zum Zeitpunkt des Marsches; und zu guter Letzt Cyber-Angriffe auf renommierte unabhängige Medien wie auf die Zeitung „Novaja Gazeta“, den Radiosender „Echo Moskvy“ und den TV-Sender „Dozhd'“ – zeitweise waren sowohl die Internetseiten aller drei Medien, als auch die Live-Übertragungen, nicht mehr zu öffnen. Ablenkung boten die staatlichen Fernsehsender: kein Wort über die Demonstration, dafür aber eine Live-Übertragung des Anschnitts der größten Kirschtorte der Welt. Gratulation, genau so schützt man das Volk vor „radikalen Kräften“.

Die Zeichen auf eine Mäßigung dieser Gangart von Seiten der Politik stehen schlecht. Und dieser Umstand bereitet mir Sorgen. Wie dies alles enden soll, weiß ich nicht. Ich hoffe, im Guten. Die Chancen dafür stehen meiner Meinung nach aber schlecht.

Adé, Herrschaft des Volkes – Willkommen im Polizeistaat. Teil 1.

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben soll oder nicht; ich hege große Zweifel daran, dass es mir gelingt, all jenes in Worte zu fassen, was in den letzten Tagen in Russland passiert ist; und ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was ich derzeit erlebe, richtig und der Wahrheit entsprechend vermitteln kann. Aber gut.

Die Demokratie in Russland ist nun endgültig Geschichte. Es gibt sie praktisch nicht mehr. Wurden in der Vergangenheit die Verfassung und die elementarsten Menschenrechte durch die Macht einigermaßen subtil und leise umgangen, holte die Duma (Erste Kammer des Parlaments) am 5. Juni zu einem Rundumschlag aus: nach einem 12-stündigen Abstimmungsmarathon wurde, trotz Obstruktion (chapeau!) der sonst eher handzahmen Opposition (von ihr selbst treffend als „italienischer Streik“ bezeichnet), ein Gesetzentwurf beschlossen, der darauf abzielt, die Versammlungsfreiheit massiv einzuschränken. Am Tag darauf winkte der Föderationsrat (Zweite Kammer des Parlaments) den Entwurf innerhalb einer Stunde eilig durch und legte ihn sodann dem Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Putin, zur Unterzeichnung (oder, rein hypothetisch, zur Nicht-Unterzeichnung) vor. Einige Experten äußerten sogar die Hoffnung, Putin könnte den Entwurf ablehnen, um – salopp ausgedrückt – guten Willen zu zeigen und sich einen demokratischen, volksnahen Anstrich zu verpassen. Dem war allerdings nicht so. Der Präsident setzte gestern seine Unterschrift unter den Gesetzentwurf, die Regierungszeitung „Rossijskaja Gazeta“ veröffentlichte ihn heute. Damit trat ein Gesetz in Kraft, das absurd, menschenverachtend und repressiv ist.

Um aber auch die positive Seite der Medaille aufzuzeigen, möchte ich hiermit der russischen Regierung herzlich gratulieren (und ich hoffe, dass der Geheimdienst FSB diese Zeilen mitliest): wohl selten zuvor wurde ein Gesetz, das übrigens „das Volk vor radikalen Kräften schützen soll“, so schnell verabschiedet. Hut ab. Und das just vor den für den 12. Juni anberaumten zweiten „Marsch der Millionen“ in Moskau. Da soll mir noch einmal jemand sagen, die Politik sei träge und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Und das beste am druckfrischen Gesetz: es „schützt“ nicht nur das Volk, sondern vernichtet auch jenes Element, das die ansonsten passiv und geduldig vor sich hindösenden Russen wachgerüttelt hat – den Protest gegen die Politik. Ein Hoch auf die wieder einkehrende Ruhe und Stabilität!

Oder doch nicht? Ich hege große Zweifel daran, dass sich viele Protestierende von der neuen Verordnung davon abbringen lassen, ihrem Unmut weiter Luft zu machen – und das trotz der für hiesige Verhältnisse drakonischen Strafen. So sieht das Gesetz für die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen (Genehmigungen sind eine seltene Ausnahme, Anm.) oder für einen Gesetzverstoß Höchststrafen von 300.000 Rubel (ca. 7500 Euro) oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit für Privatpersonen und gar eine Million Rubel (ca. 25.000 Euro) für Organisationen vor. Die „Verstöße“ können dabei getrost als wahnwitzig bezeichnet werden: das Zertrampeln von Rasenflächen, die Behinderung des Straßenverkehrs, das Tragen von Base-Caps oder Sonnenbrillen, die Ausgabe von Essen, laute Parolen oder die bloße Ankündigung, an einer Demonstration teilnehmen zu wollen. Diese Liste ließe sich aufgrund der unpräzisen Formulierung der Verstöße und des damit einhergehenden großen Interpretationsspielraums noch weiter fortsetzen.

Um es auf den Punkt zu bringen, trat heute ein Gesetz in Kraft, das nicht nur Proteste und Demonstrationen jeglicher Art in Zukunft praktisch unmöglich macht – mehr noch: es kriminalisiert pauschal größere Menschenansammlungen, die einem gemeinsamen Anliegen folgen. Darunter fiele theoretisch, um ein Beispiel zu nennen, auch der Protest von Bewohnern eines Miethauses, denen tagelang und ohne Ankündigung das Wasser abgestellt wird. Oder aber eine Hochzeitsgesellschaft, die lärmend und grünflächenzertrampelnd durch irgendeine russische Innenstadt zieht. Nochmals vielen Dank dem Kreml, dass er sich so rührend für die Ruhe seiner Bürger einsetzt. Und dabei sogar in Kauf nimmt, ein an sich verfassungswidriges Gesetz zu verabschieden. Hut ab, zum Zweiten.

Kleine Wende, hin zum Realen: (Fortsetzung folgt).

Sinneswandel

Ich habe mich entschieden. Ich mag die Stadt. Ich mag Voronezh. Doch dazu später. Zuerst einige Zeilen darüber, wie es dazu kam.

Ich musste, wie es oft so ist, weg aus der Stadt, um dieselbe mögen zu lernen. Ich musste die Provinz verlassen, um mit dem Gefühl endlich zu wissen, warum ich hier bin, zurückzukehren. Wie ich im letzten Eintrag schon habe anklingen lassen, bin ich am Freitag vor nunmehr fast zwei Wochen nach Moskau gefahren, um dort an einem Einführungsseminar und einer Menschenrechtskonferenz teilzunehmen. Erfahren habe ich dies genau einen Tag vor der Abfahrt. Ich sagte sofort zu.

In den Tagen zuvor quälte mich eine mir bis dahin unbekannte Orientierungslosigkeit – in jederlei Hinsicht. Es prasselte einfach tagelang zu viel auf mich ein. Das ansonsten von mir geliebte Gefühl, in einer fremden Stadt anzukommen, kam nicht wirklich auf. Ich hatte keine Zeit, einfach so – ohne Ziel, ohne Plan – durch die Stadt zu laufen, sie versuchen zu verstehen, zu beobachten. Alles, was ich kannte, war der Weg vom Bahnhof zu meiner Wohnung und von dort zum Büro. Ansonsten nichts. Zugegeben, dieses Gefühl quälte mich. Abgesehen davon war auch mein Arbeitstag von einer gewissen Orientierungslosigkeit gekennzeichnet. Zeitweise hatte ich sogar das Gefühl, mich allzu leichtfertig in das kalte Wasser einer Menschenrechtsorganisation geworfen zu haben. Ich hatte – einfach gesagt – keinen blassen Schimmer, womit ich mich beschäftigen wollte und sollte. Ganz zu schweigen davon, eine Vorstellung zu haben, wie die alltägliche Arbeit abläuft. Kurz: ich war überfordert. Sehr.

Die drei Tage in der russischen Hauptstadt allerdings brachten meinem Kopf die 180-Grad-Wende. Um schon an dieser Stelle ein Fazit zu ziehen: Ich habe noch nie in meinem Leben so viele intelligente, scharfsinnige und interessante Persönlichkeiten getroffen. Das zwölfstündige Einführungsseminar, das vom bekannten russischen Menschenrechtsaktivisten Andrey Yurov geleitet wurde, und meine Teilnahme an der am nächsten Tag folgenden Konferenz „Menschenrechte ohne Vorurteile“ setzten einen wahren Denkprozess in Gang, der bis heute anhält. Es ist dies ein Prozess, der mich Schritt für Schritt aus der allzu lieb gewonnenen, weil angenehm ruhigen und konfliktlosen, westeuropäischen Passivität löst. Und ich beginne zu begreifen, wie wichtig es ist, sich für die fundamentalsten und natürlichsten Rechte (und Pflichten) einzusetzen. Dies klingt lapidar, ich weiß. Sieht und hört man sich aber einige tausend Kilometer weiter westlich um, so versteht man den Sinn hinter dieser Aussage: Wer im Fett schwimmt, schert sich weder um Anderes, noch um Andere.

Mir fällt es ehrlich gesagt schwer, meine Bewunderung für jene Aktivisten und Aktivistinnen in Worte zu fassen, die ich in den ersten zwei Wochen kennengelernt habe. Ich bewundere den Idealismus, der hinter allem steckt, die Hartnäckigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen und die Überzeugung, etwas bewegen zu können. Denn sich für die Menschenrechte einzusetzen ist – gelinde gesagt – eine undankbare Angelegenheit. Zu bewältigen sind die endlosen Schikanen und aberwitzigen Entscheidungen der Politik und die Ignoranz eines großen Teils der Bevölkerung nur mit einem: Humor. Oft tiefschwarz-sarkastisch und mit einem Lachen, das im Halse steckenbleibt – anders kann man auf viele Geschehnisse und Umstände einfach nicht reagieren.

Aber genug davon. Ich habe die russische Hauptstadt also mit genau dem oben beschriebenen Gefühl verlassen – und bin zufrieden und gleichzeitig motiviert nach Voronezh zurückgekehrt. Seitdem finde ich mich im Büro gut zurecht, weiß, was ich bis Mitte August gemacht und erreicht haben will und beginne, die Stadt und ihre Einwohner an sich zu begreifen. Während mehrerer Streifzüge offenbarte sich mir etwas, das ich mir vom als dreckigen Moloch verschrieenen Voronezh nicht erwartet hätte: die grüne Seite der Stadt. Gut, bis in die richtigen Plattenbausiedlungen der Außenbezirke bin ich noch nicht vorgedrungen – dennoch wage ich zu behaupten, mich in einer vor Parks und Grünanlagen strotzenden Stadt zu befinden. Überhaupt hat Voronezh Kleinstadtcharakter – und das trotz der 900.000 Einwohner. Um mich kurz zu halten: Es ist hier weit schöner, als ich mir ausgemalt hatte. Das Zentrum, etwas erhöht am rechten Ufer des aufgestauten Voronezh-Flusses gelegen, beeindruckt durch ein unglaubliche Vielfalt der Architektur: von traditionellen Holzhäusern über Barockgebäude bis hin zu Zuckerbäckerstilpalästen und Zweckbauten aus der späten Sowjetzeit – man findet so ziemlich alles. Die neueren Stadteile, am linken Ufer gelegen, sind eher von gewohnter grauer Platten-Monotonie geprägt. Aber auch dies hat, so meine ich, seine Ästhetik.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Willkommen in der Provinz und wie ich hier landete

Voronezh. Wáronjesch. Schon der Name alleine klingt nicht nach Stadt der Träume. Er klang selbst für mich bis zu meiner Ankunft vorgestern eher nach Dreck und tiefster Provinz in jederlei Hinsicht. Ich bemühte mich aber, all das Gelesene und Gehörte (was meistens negativer Natur war) auszublenden, und unvoreingenommen in jener Stadt anzukommen, die für die nächsten drei Monate meine Heimat sein wird.

Und es hat geklappt. Ich bin positiv überrascht. Zwar habe ich bis jetzt nicht allzu viel von der Stadt gesehen, das was ich aber gesehen habe, entsprach nicht wirklich dem Bild, das außerhalb Voronezhs gemalt wird. Das gesamte Stadtzentrum ist frisch restauriert (offensichtlich wurde für das letztjährige 425-Jahr-Jubiläum wie in Irkutsk die halbe Stadt auf Hochglanz gebracht), breite Gehsteige säumen die Straßen, der (zugegebenermaßen sehr dichte) Verkehr läuft in geordneten Bahnen ab und gepflegte Parks laden zum Verweilen ein. Trotz fast einer Million Einwohner aber hat Voronezh noch immer das Flair einer kleinen russischen Provinzstadt – im Guten, wie im Schlechten. So genannte „gopniki“ – Männer, meistens in der Hocke sitzend, billigstes Bier aus PET-Flaschen trinkend und „semetschki“ (geröstete Sonnenblumenkerne) essend – trifft man an jeder Straßenecke (wie auch in Irkutsk, übrigens), alte Marschrutki (Sammeltaxis) klappern über die Straßen, die Busse stammen meist entweder aus Sowjetproduktion oder wurden gebraucht importiert, der Geruch in den „pod“ezdy“ (zu Deutsch etwa Mehrfamilienhauseingänge) ist wie gewohnt eine Mischung zwischen Tierexkrementen, frisch Gekochtem und Undefinierbarem. Kurz: Russland, so wie es sein sollte. Weit, weit weg scheint die glänzende, wunderbar europäisch funktionierende Hauptstadt zu sein. Und das ist auch gut so.

Aber wechseln wir das Thema. Ich hätte eigentlich vorgehabt, einen wunderschönen Eintrag über meine Zugfahrt von Moskau hierher zu schreiben. Ich wollte darüber schwärmen, wie angenehm und entspannend es ist, mit der russischen Bahn durch das Land zu fahren, welch interessante Menschen man während der Fahrt kennenlernt. Daraus wurde aber nichts – im Folgenden jene Zeilen, die ich während der Reise in meinen Notizblock gekritzelt habe.

22.05.12, 16:35 Uhr

Da ist es wieder, dieses Gefühl. Das sanfte, weiche Schaukeln, der typische Geruch, das langsame Vorbeigleiten der Landschaft. Ich liege bäuchlings auf meiner Pritsche und genieße.

Es ist für mich immer wieder ein Gefühl der Freiheit, in einen russischen Fernzug zu steigen. Lange musste ich darauf warten, es hat mir richtiggehend gefehlt, wie ich gerade merke. Vor gut eineinhalb Stunden bin ich aus Moskau abgefahren. Dort hatte ich, wie ich in meinem letzten (zugegeben eher mauen) Eintrag anklingen ließ, drei unvergessliche Tage verbracht, viel gelacht, in Erinnerungen geschwelgt und gestaunt.

Nun geht es aber wieder in die Provinz, nach Voronezh. Sechs Stunden Fahrt liegen noch vor mir. Sechs Stunden, die ich mit Lesen, Nachdenken und Musik verbringen werde.

Und nun die nächste Notiz, sechseinhalb Stunden danach verfasst.

Das war Eisenbahnromantik, so wie ich es gewohnt war. Als ich den letzten Eintrag schrieb, war ich noch zutiefst entspannt. Diese Entspannung blieb aber buchstäblich auf der Strecke. Vor einer halben Stunde hätte ich in Voronezh ankommen sollen – irgendwie liegen aber noch mindestens zwei Stunden Zugfahrt vor mir.

An sich wäre das doch kein Problem: Zeit habe ich. Und an sich empfinde ich für russische Züge auch tiefste Zuneigung. Heute aber nicht. Um es gehoben auszudrücken, echauffiert mich das – Verzeihung – Gesindel in meinem Waggon. Dass schon vierjährige Kinder russische Kraftausdrücke gebrauchen und ihre Eltern nicht ein geringstes Maß an Anstand und Rücksichtnahme zeigen, habe ich bis jetzt noch nicht erlebt.

Vielleicht ist es zu gewagt, dies nun zu äußern – aber im europäischen Teil Russlands habe ich schon des öfteren Ansätze einer ansonsten unrussischen Eigenschaft festgestellt: Kulturlosigkeit in all ihren Nuancen. Ich hoffe, dass ich mich irre.

Offensichtlich lagen meine Nerven zu jenem Zeitpunkt schon ziemlich blank. Außerdem hatte ich kein Guthaben mehr auf meinem Handy und die Akkuanzeige bewegte sich auch mehr und mehr gegen Null. Das wäre ja an sich auch kein Problem gewesen – vorausgesetzt, ich hätte gewusst, wo sich meine Wohnung befindet und wie ich dorthin komme. Mit meiner Mitbewohnerin Dasha hatte ich allerdings vereinbart, dass sie mich am Bahnhof abholt. Ich aber zweifelte daran, dass sie trotz über zweistündiger Verspätung und typisch russischer Informationspolitik immer noch dort warten würde und war mental schon auf eine Nacht im Bahnhof vorbereitet. Dasha aber hatte sich in der Zwischenzeit, wie sie mir später erzählte, zu den Obdachlosen gesellt und auf mich gewartet. Sehr nett.

Nun bin ich also hier, in Voronezh. Und stecke noch mitten im Anpassungs- und Eingewöhnungsprozess. Dieser zieht sich im Übrigen länger, als gewohnt – warum auch immer. Es kann damit zusammenhängen, dass Voronezh mit keiner Stadt zu vergleichen ist, in der ich bis jetzt war – auch nicht mit dem ähnlich provinziellen Irkutsk. Es kann auch damit zusammenhängen, dass der richtige Durchblick bei meiner Arbeit noch auf sich warten lässt. Möglicherweise ist es eine Mischung von allem, von all dem Vielen, das derzeit auf mich einprasselt. Ich bin aber guter Dinge, dass sich die Nebel spätestens nächste Woche lichten.

Schon heute aber geht es wieder nach Moskau. Ich werde dort morgen und übermorgen an einem Einführungsseminar und an einer Konferenz für Menschenrechte teilnehmen. Anfang nächster Woche gibt’s dann wieder Neues.

Moskau-Potpourri

16:47 Uhr, Kolomenskoje, Moskau.

Hier sitze ich nun, auf einer Holzbank. Mir weht eine frische Brise um die Nase. Vögel zwitschern, Blätter rauschen. Sonst nichts.

Nein, es fühlt sich nicht wie Moskau an. Überhaupt nicht. Schreiende Metrozüge rasen wahrscheinlich gerade einige Dutzend Meter unter mir durch den Untergrund, beladen mit gestressten, schwitzenden Alltagsmenschen. Leise knatternde Blechlawinen wälzen sich wahrscheinlich gerade einige hundert Meter von hier über den heißen Asphalt. Ja, Moskau ist wie immer. Nur jetzt gerade nicht.

Ich bin in Kolomenskoje, einer alten Zarenresidenz südlich des Stadtzentrums. Heute ein Park, ist dieser grüne Fleck auf der Stadtkarte typisch für die Hauptstadt: ruhig, entspannt, erfrischend. Kurz: das Anti-Moskau. Solche Plätze gibt es hier überraschend viele. Man muss nur, wie man sagt, wissen wohin, um der Hektik zu entfliehen.

Gestern um 02:00 Uhr Ortszeit kam ich in der russischen Hauptstadt an. Nach einer Nacht im Flughafen, wo ich meinen Körper zwischen Wand und Fußboden schmiegte, fuhr ich in die Stadt. Es fühlte sich gewohnt ungewohnt an – der Geruch, der Lärm, das zu viel an Allem. Doch das anfängliche Gefühl des Fremdseins wich Stück für Stück. Und machte einer – zugegebenermaßen sehr überschwänglichen – Freude, ja Euphorie, platz. Freude darüber, lange nicht gesehene Freunde wiederzutreffen, das Lebensgefühl Moskaus zu spüren und endlich wieder eine russischsprachige Umgebung zu haben.

Das letzte Mal war ich Ende Juni letzen Jahres hier. Elf Monate ist das nun her. Seitdem hat sich vieles getan: Duma- und Präsidentenwahl, Proteste und Demonstrationen. Das russische Volk, so schien es, habe sich endlich dazu aufgerafft, sich gegen das herrschende System zu wehren. Über Erfolg oder Misserfolg kann allerdings gestritten werden; ebenso darüber, ob der sich auflehnende Teil der Bevölkerung angesichts ihrer Heterogenität überhaupt in der Lage ist, einen politischen Kurswechsel herbeizuführen – oder ob es durch die Aktionen der so genannten „Opposition“ lediglich zu einer Spaltung der russischen Gesellschaft kommt. Es entspricht den Tatsachen, dass es einen nicht zu vernachlässigenden Bevölkerungsteil gibt, der um die liebgewonnene putinsche Stabilität fürchtet und deswegen besonders jene Formen des Protestes der Opposition radikal ablehnt. Dessen ungeachtet war und ist es immens wichtig, dass durch die jüngsten Entwicklungen viele Russen und Russinnen aus ihrer fast schon zum Lebensgefühl gewordenen Lethargie buchstäblich gerissen worden sind.

Aber gut, man könnte noch ewig über dieses Thema schreiben. Ich bin aber müde und möchte heute noch meine Moskau-Eindrücke in den Äther schicken. Wie ich schon anklingen habe lassen, ist die russische Hauptstadt so wie immer: protzig, verstopft und stickig auf der einen – aber anregend, aufregend und überraschend auf der anderen Seite. Beispielsweise ist mir in den letzten zwei Tagen eine neue Spezies auf Moskaus Straßen aufgefallen: Radfahrer. Chapeau vor all jenen, die mit dem Rad durch die Innenstadt fahren – einen Bungee-Sprung für den Adrenalin-Kick kann man sich dabei ruhigen Gewissens sparen. Und überhaupt habe ich seit meiner Ankunft die fast schon europäisch anmutenden Seiten der Hauptstadt entdeckt: Radwege (naja, einen), Strandbars, gepflegte Parks mit Live-Musik, kollektive Yoga-Stunden, ein riesiges Tanzparkett an der Moskva.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Ehrlich gesagt müsste man mich nicht zwei Mal bitten, noch länger in Moskau zu bleiben. Doch morgen, um 15:00 Uhr Ortszeit geht es weiter, weiter in Richtung Süden. Voronezh wartet.

Neustart

Still geworden ist es hier. Fast ein ganzes Jahr lang hat dieser Blog auf Tastaturanschläge von meinem Rechner verzichten müssen. Fast ein ganzes Jahr lang warten die mit Sinnvollem und -losem vollgekritzelten Seiten zweier Notizblöcke darauf, hier veröffentlicht zu werden. Bis jetzt habe ich es nicht geschafft – und ich werde es auch nicht machen. Denn es ist zu viel Zeit vergangen, die Erinnerungen an meine Reise in die Mongolei verblassen wie die Notizblockseiten immer mehr – und meine fast einmonatige Fahrt von St. Petersburg in die Heimat war so ereignisreich, dass es nun unmöglich ist, das alles leserfreundlich aufzubereiten. Deswegen belasse ich es so und schlage nun ein neues Kapitel auf.

Übermorgen geht’s wieder in den Osten. Mein Ziel: Voronezh (ausgesprochen: „Warònjesch“; vom Duden empfohlene Schreibweise: Woronesch – da diese Schreibweise aber meiner Meinung nach bis zum Erbrechen hässlich ist, verwende ich die englische Transkription). Wieder einmal fiel meine Wahl auf eine Stadt in der Provinz (deswegen der Wechsel des Blogtitels von „Sibirische Anekdoten“ zu „Provinzanekdoten“) – sie liegt aber nicht wie Irkutsk in Sibirien, sondern ca. 600 km südöstlich von Moskau in Südrussland (und deswegen der Wechsel des Fotos von einem an Zwangsexil erinnernden rostigen Zaun zu einer Aufnahme einer russischen Steppenlandschaft). Und ich werde im besagten Voronezh nicht studieren, sondern arbeiten. Und zwar als Freiwilliger. Für eine Menschenrechtsorganisation. (Und ja, ich bin mir im Klaren, dass sich eure Reaktionen nun zwischen einem „Super!“ und einem „Spinnst du?“ bewegen.)

Über die Stadt weiß ich schon einiges. Meine Mutter zu meinem und ihrem großen Erschrecken übrigens auch. Dennoch werde ich jetzt, da ich mich noch nicht in Voronezh befinde und nicht von meinen persönlichen Eindrücken berichten kann, keine Zeile darüber schreiben. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass das Bild der Stadt hier bei uns, als auch im restlichen Russland, maßlos überzeichnet wird und im Großen und Ganzen nicht der Realität entspricht. Wie so oft.

Nichtsdestoweniger freue ich mich wieder darauf, ein klein wenig von dem, was ich in der russischen Provinz erlebe, über diesen Blog in die heimatlichen Gefilde zu bringen. Ich möchte damit nicht nur euch die Möglichkeit geben, mich nicht aus den Augen zu verlieren, sondern dazu beitragen, das europäische Russland-Bild zurechtzurücken und Stereotypen und Klischees zu entkräften – oder aber auch zu bestätigen. Wie immer – und  versteht das nun als wiederholten Appell gegen die grassierende Passivität – würde ich mich über Anregungen und Kommentare freuen.

Also dann, bis bald.

„Mach’s gut, Irkutsk“ – Das Reisetagebuch. Teil 3: St. Petersburg.

30. Juni, 10.00 Uhr Ortszeit.

Es regnete in Strömen als ich in St. Petersburg ankam. Grau, nass, kühl, unterkühlt. Piter, wie die Stadt in Russland auch genannt wird, ist ein Fremdkörper, unrussisch. Und das Anti-Moskau. Als ich am Sonntag, 26. Juni, in St. Petersburg ankam, hatte ich noch den Moskau-Rhythmus im Blut, das Helle und Grelle der Hauptstadt in den Augen und das Übermaß an allem – an Menschen, Autos, Lärm, und obszön zur Schau gestellten Reichtum – im Hinterkopf. St. Petersburg protzt mit Anderem: Gemächlichkeit, Ruhe und Erhabenheit. Der Moskauer Laufschritt wird zum Spaziergang, die auslandende Größe der Hauptstadt verkleinert sich in St. Petersburg auf ein handliches Maß. Auch die Geschwindigkeit verringert sich merklich: die Autos fahren langsamer, die Metro ruckelt schon fast gemächlich durch den Untergrund. Die hunderte Meter langen Rolltreppen zu den U-Bahn-Bahnsteigen werden hier nur mehr auf dem Weg abwärts laufend zurückgelegt. Und das nur gelegentlich. Aufwärts steht man und wartet – während Moskau hetzt.

Von Anhieb an begeisterte mich die Stadt. Schon im Februar erkannte ich, dass St. Petersburg das Potenzial hat, eine meiner Lieblingsstädte zu werden. Das ewige Grau im Halbdunkel, der Wind, der Regen, das Eis und der Matsch von damals aber ließen mich daran zweifeln. St. Petersburg im Sommer unterscheidet sich davon buchstäblich wie Tag und Nacht. Wobei von Nacht im Sommer nicht wirklich die Rede sein kann. Im Juni zumindest wird sie zum Tag, die Sonne geht erst kurz vor Mitternacht unter und einige wenige Stunden später wieder auf. So richtig dunkel wird es übrigens nie: das sind die Petersburger „belye notschi“ – die „Weißen Nächte“. An Schlaf denkt man gar nicht.

So kam es, dass ich mit meinem Reisegefährten Nelson und unserem verrückten Couchsurfing-Gastgeberpaar Dascha und Witja eines Nachts auf einem Boot landete – und Wein trinkend eineinhalb Stunden durch die Kanäle der Stadt fuhr. Es war atemberaubend schön. Ich blickte sprachlos auf die beleuchtete Stadt in der Dämmerung und klatschte begeistert mit den Menschenmassen auf und an der Newa als die Brücken der Stadt aufgeklappt wurden um großen Fracht- und Tankschiffen die Durchfahrt zu ermöglichen.

Ich war übrigens auch nur auf der Durchfahrt (und ja, dieser Übergang ist wirklich schlecht). St. Petersburg stellte nur einen Zwischenstopp auf meiner Reise nach Europa dar. Und bot mir dabei die Gelegenheit, mich auf die Lebensweise meines Mutterkontinents wieder einzustellen. Mehr Europa als hier gibt es nämlich nirgends in Russland.

Diese Diashow benötigt JavaScript.