Warum man Irkutsk lieben muss. Teil 3: Das Wetter.

Drei Tage bleiben mir noch. Um deshalb nun nicht im Abschiedsschmerz über Leute, Alltag und Natur schreibend zu vergehen, ziehe ich das Thema der Mehrzahl aller der reinen Höflichkeit halber geführten Small-Talks vor: Das Wetter.

Auch hier in Sibirien spricht das gemeine Volk gerne darüber. Ganz wie bei uns. Und meistens ist es dabei zu heiß, zu kalt, zu windig, zu schlecht. Nur zu gut nie. Ganz wie bei uns. Der oft unverhofft in den Genuss eines solchen Gesprächs kommende fremde Mensch ist dabei aber meist eines: wildfremd. Besonders die Babuschkas, die betagten und rabiat-willenskräftigen aber einigermaßen lieben russischen Großmütter, habe ich schon gleich am Anfang in mein Herz geschlossen. Erkennt im Laufe eines kurzen Wortwechsels dann eine dieser eloquenten Amazonen noch, dass ein sie einen Ausländer am Haken hat, kann es sein, dass das Gespräch geschickt vom Wetter in Richtung „hübsche, junge Enkelin“ und ihrer Handynummer gelenkt wird. Ach so, ich schweife ab.

Zurück zum Wetter, also. Ich weiß genau, dass meine südtiroler Leser derzeit im Regen sitzen. Ehrlich gesagt blicke ich mit ein wenig Neid in meine Heimat. Erst vor ein paar Stunden bin ich auf dem Heimweg aus dem Stadtzentrum von einer Art Staubsturm überrascht worden: Plötzlich kam ein starker Wind auf, der am Anfang zwar die Hitze linderte, dann aber den Staub und Dreck aus der Umgebung und der Stadt selbst aufwirbelte und alles in ein diffuses, unwirkliches Licht tauchte. Atmen war übrigens nicht wirklich angenehm. Und die Augen aufzureißen auch nicht.

Das ist der Nachteil, wenn man so gut wie jeden Morgen von strahlend blauem Himmel begrüßt wird. In Irkutsk ist es im Vergleich zu Mitteleuropa und sogar im Vergleich zum Vinschgau (ein Gruß dorhin) staubtrocken – aber sonnig. Natürlich weiß ich nach vier Jahren Studium in Salzburg schönes Wetter zu schätzen (und damit auch ein Gruß nach dort), dennoch ist mein Klagen auf hohem Niveau verständlich, wenn man sich vorstellt, wie sehr man sich Sonne nach wochenlangem Regen wünscht. Bei mir ist es halt umgekehrt. Damit wäre der erste Sibirien-Mythos aus dem Weg geräumt.

Und noch ein sich im Westen festgesetztes Bild, das entweder ganz und gar nicht oder nur bedingt zur sibirischen Realität passt: Schnee gibt es verhältnismäßig wenig. Ewas mehr im Osten und Westen, wenig im Norden und Süden Sibiriens. So hat es in Irkutsk den ganzen Winter über gerade einmal 30 oder 40 Zentimeter geschneit. Das reichte übrigens vollkommen: der Müll verschwand, die Stadt war weiß, die Loipen konnten gespurt und die Skipisten präpariert werden. Als ich mich Ende April schon längst vom Winter verabschiedet hatte und die Tage im T-Shirt durch die Stadt streundend verbrachte, wütete ein 24-stündiger Schneesturm über der Stadt, entwurzelte Bäume, kappte Stromleitungen (was der Nachtschwärze etwas Apokalyptisches gab) und legte Mobilfunk- und Internetverbindungen und den Verkehr auf Straße, Schiene und in der Luft lahm. Der Schnee, der fast einen halben Meter hoch lag, brauchte mehr als eine Woche um zu tauen. Dann aber ging alles ganz schnell: innerhalb von wenigen Tagen ergrünte Ende Mai die ganze Stadt. Genau zu dieser Zeit war ich in der Mongolei unterwegs – und traute meinen Augen kaum, als ich nach sechs Tagen in ein völlig anderes Irkutsk zurückkehrte. Man muss hier auf alles gefasst sein.

Und hier noch ein letztes Sibirien-Klischee, das ich aus dem Weg geräumt wissen möchte: In Sibirien ist es nicht immer kalt. Zugegeben, von Ende Oktober bis Anfang März herrscht Dauerfrost. Man gewöhnt sich aber daran – minus dreißig oder gar minus vierzig Grad fühlen sich zwar immer noch eiskalt an – ein gewisser „Spaßfaktor“ macht diese Kälte aber erträglich. Und minus zwanzig Grad nahm ich schon als „warm“ wahr – am Körper und im Kopf. Außerdem scheint so gut wie immer die Sonne; sie wärmt zwar nicht, verbessert aber die Laune. Von der Salzburger Winterdepression keine Spur.

Und noch eine gute Seite der Eiseskälte: Was war es ein freudiges Ereignis, als die Minustemperaturen das erste Mal einstellig wurden – von den Glücksgefühlen ganz zu schweigen, als die Lufttemperatur zum ersten Mal in den positiven Bereich rutschte. Diese Aneinanderreihung der „erfreuenden ersten Male“ kann fast endlos weitergeführt werden: zum ersten Mal ohne Kopfbedeckung, zum ersten Mal ohne Daunenjacke, zum ersten Mal ganz ohne Jacke, zum ersten Mal im T-Shirt und zum ersten Mal in kurzen Hosen. Letzteres liegt übrigens erst zwei Wochen zurück.

Aber zurück zum Kälte-Klischee: Von Anfang Juni bis Anfang September ist es sommerlich warm bis heiß in Irkutsk. Wirklich. Die Hitze hier nehme ich aber anders wahr als in Europa – sie ist angenehmer. Dadurch, dass die Luft so trocken ist, empfindet man hohe Temperaturen als weniger drückend. Einzig durch die Sonne, die hier unvergleichbar kräftig vom Himmel brennt, kommt man ins Schwitzen. Gut, dies spricht nicht der ganzen Wahrheit: Die öffentlichen Transportmittel könnte man gut und gerne zu rollenden Banjas (russ. Sauna, Anm.) umfunktionieren. Das wär‘ doch was.

Um ein Fazit zu ziehen: Das Wetter hier in Irkutsk empfinde ich als sehr ansprechend – es macht sogar gute Laune. Und dabei kann man auch bei den unangenehmen Seiten – dem langen Winter und den häufigen „Überraschungen“ – ein Auge zudrücken. Ja, Irkutsk muss man sogar des Wetters wegen lieben.

Warum man Irkutsk lieben muss. Teil 2: Die Stadt.

Irkutsk, Irkutsk. Irgendwie findet diese Stadt ein Mittelding: Irkutsk ist nicht zu groß und nicht zu klein; nicht zu schön, nicht zu hässlich; nicht zu sauber, nicht zu dreckig; nicht zu reich, nicht zu arm. Irkutsk ist weder zu russisch, noch zu asiatisch. Irgendwie hat Irkutsk ein gutes Maß an allem.

„Irkutsk – seredina semli“ – „Irkutsk – die Mitte der Erde“, diese Bezeichnung trifft den Nagel auf den Kopf. Das geographische Zentrum Asiens liegt ein wenig südwestlich von Irkutsk, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Russlands dagegen befinden sich einige tausend Kilometer weiter im Westen. Dies alles bedingt, dass diese meine Stadt an der Angara etwas Besonderes ist: eigenständig und etwas eigenwillig, provisorisch und planlos, grellbunt und traurig grau.

Beginnen wir mit den erstgenannten Eigenschaften: eigenständig und etwas eigenwillig. Der gemeine Irkutjaner (und die gemeine Irkutjanerin) versteht sich in erster Linie als Sibirjake (bzw. Sibirjakin) und nicht als Russe (oder Russin). Russland hat es nicht allzu leicht in Sibirien. Das war schon immer so. Seit der Einverleibung Sibiriens in das russische Reich während des 16. und 17. Jahrhunderts gab sich das Land jenseits des Urals als trotziges und aufmüpfiges Kind. Durfte es auch; und darf es bis heute. Stellt es doch (nach der größmöglichen Definition) drei Viertel des gesamten russischen Staatsgebiets dar. Erdöl und Erdgas, Kohle, Gold, Diamanten, Holz und so weiter – der Großteil der russischen Naturressourcen sind in Sibirien zu finden. Deshalb verwundert es auch nicht, dass hier eine chronische Abneigung gegen den russischen Staat herrscht. Dieser wird als Ausbeuter wahrgenommen, der viel nimmt, aber wenig gibt – in finanzieller, als auch politischer Hinsicht. Dass vom Staat Gutes zu erwarten ist, von diesem Gedanken haben sich die Menschen hier schon vor einiger Zeit (und besonders seit den 90er Jahren) verabschiedet. Aufgrund dessen hat sich, so mein Eindruck, hier in Sibirien (Irkutsk eingeschlossen) eine sich vom restlichen Russland unterscheidende Gesellschaft etabliert. Ich empfinde sie als flexibler und wandlungsfähiger – das verlangen schließlich die Lebensumstände hier-, als toleranter und aufgeschlossener. Seit Jahrhunderten leben in Sibirien über 100 verschiedene Völker mit von Grund auf unterschiedlichen Kulturen und Religionen miteinander. Konflikte gibt es aber so gut wie keine. In Irkutsk werden die Burjaten, ein mit den Mongolen verwandtes Volk, seit jeher „brat’ja“ – „Brüder“ genannt. Das bezeichne ich als einzigartig.

Eigenwilligkeit herrscht auch auf der lokalen politischen Bühne. Wie es um die Politik in Russland steht, ist bekannt: Es dominiert die Partei „Geeintes Russland“. Sie stellt u.a. den Präsidenten (Dmitrij Medwedjew) und den Premier (Wladimir Putin), so gut wie alle Gouverneure und Präsidenten in den Regionen und Republiken, sowie einen Großteil der Bürgermeister bedeutender Städte.

Als die Einwohner von Irkutsk vor gut einem Jahr zu den Urnen gerufen wurden um einen neuen Bürgermeister zu wählen, zweifelte niemand an einen Sieg von Sergej Serebrjannikow, dem Kandidaten von „Geeintes Russland“. Es kam aber anders: als Sieger ging Wiktor Kondraschkow, Mitglied der Kommunistischen Partei, hervor. Sein Name wurde von über 60 Prozent der Wähler angekreuzt. Nicht einmal 30 Prozent aller Stimmen konnte der Verlierer Serebrjannikow für sich verbuchen (übrigens erinnert mich schon sein Nachname an die „Silber“medaille). Nach dem Sieg des Außenseiters war Irkutsk, vor allem aber die junge Bevölkerung, im Freudentaumel, wie mir eine russische Freundin erzählte. Die Jugend hatte für den Sieger Kondraschkow massiv die Werbetrommel gerührt, Kampagnen gestartet und sogar über Sozialnetzwerke für ihn geworben. „Wir wollten einfach den Wechsel“, sagte sie. Und es hat geklappt. Daran änderte auch der (meiner Meinung nach nicht ganz freiwillige) Wechsel Kondraschkows in die Reihen der Partei „Geeintes Russland“ nichts. Nach wie vor ist man zufrieden mit dem neuen Bürgermeister.

Ich bin es übrigens auch. In den letzten Monaten hat sich in der Stadt einiges getan. An allen Ecken und Enden wird repariert, saniert, restauriert und gebaut. So langsam, so mein Eindruck, verwandelt sich Irkutsk wirklich in eine lebenswerte Stadt.

Diese Entwicklung lässt all das Provisorische – das im Übrigen den Charakter Irkutsks mitbestimmt – in den Hintergrund treten. Ehrlich gesagt, mag ich die Provisorien in Irkutsk. Sie verleihen der Stadt etwas Besonderes, so meine ich. Da gibt es zum Beispiel das eine große Areal im Stadtzentrum, wo früher eine Fabrik ihre dunklen Rauchschwaden über Irkutsk wehen ließ. Die Fabrik, sie steht noch, ist aber schon seit Jahren von einem Bauzaun umgeben und es tut sich – nichts. Da gibt es die nicht asphaltierten Nebenstraßen in den abgelegeneren Stadtvierteln, die den Fahrzeugen bei Regen den speziellen „Schaut-her-ich-war-in-der-Taiga-unterwegs-Look“ verleihen und bei Wind Staubwolken über die Stadt jagen lassen. Da gibt es das eine Gebäude, in dessen Supermarkt ich hin und wieder einkaufe – und ich kann mich noch genau daran erinnern, dass die Fassade noch im September 2009 nicht fertiggestellt war. Und auch heute noch schnuppert die bloße Isolierung frische Luft.

Frische Luft in einem sanierten Park zu schnuppern, darauf müssen die Bewohner des südlichen Stadtzentrums wohl noch eine Weile warten. Die manchmal herrschende Planlosigkeit in Irkutsk, die bringt mich immer wieder zum Staunen. Da wurde vor vier Jahren der Beschluss gefasst, den eher an eine Urlandschaft erinnernden „zentral’nyj park kul’tura i otdycha“ („Zentraler Park der Kultur und Erholung“) von Grund auf zu sanieren. In diesen vier Jahren wurden sage und schreibe zweieinhalb Millionen Euro in die Umgestaltung investiert – und vor ein paar Monaten der Beschluss gefasst, die Arbeiten einzustellen. Der offizielle Grund: Ein einheitlicher Plan fehlte. Es wurde demnach einfach darauflos gegraben und gebaggert; und gleichzeitig wanderte eine schöne Summe sicherlich in die Taschen von Bauunternehmern und Beamten. Das Thema „Korruption“ gibt übrigens Stoff für einen ganzen Eintrag.

Aber zurück zur Planlosigkeit. Beispiele dafür gibt es noch eine ganze Reihe: Straßen, die innerhalb eines Monats zwei Mal neu geteert werden, illegal aufgebaute kleine Garagen, die jedes Jahr zu Hunderten von der Stadtverwaltung enfernt werden und Projekte, die mit großem Trara angepriesen werden um alsdann wieder von der Bildfläche zu verschwinden (Tunnel durch das Zentrum, Gondelbahn über die Angara).

Nun zu den letzten zwei Merkmalen, die Irkutsk zu etwas Besonderem machen: grellbunt und traurig grau. Grellbunt trifft den nationalen Geschmack, so scheint es: Autos in giftgrün oder schweinchenrosa, Haarfarbe, Schminke und Kleidung einiger offensichtlich äußerst selbstbewussten Irkutjanerinnen und jegliche Art von Festtagsschmuck in Form von Fähnchen und blinkenden Lichtern – das russische Herz lacht, das europäische Auge schmerzt. Dem gegenüber macht auch traurig grau das Gesicht Irkutsks aus. Die farblosen Plattenbauten aus der Sowjetzeit und jene Menschen, mit ausdruckslosen und aufgedunsenen Gesichtern auf der Bordsteinkante sitzend, verleihen der Stadt etwas Schweres. Das bunte Stadtzentrum kriegt davon nichts mit.

Ja, Irkutsk ist eine besondere Stadt. Trotz all der Unzulänglichkeiten ist sie vor allem eines: ehrlich, direkt und unkompliziert. Und auch wenn ich etwas kritisch war – es fällt schwer, diese Stadt nicht zu lieben.  Neun dafür Tage bleiben mir noch.

Demonstrieren in Sibirien

Eine heikle Angelegenheit ist sie in Russland, die Sache mit dem Demonstrieren – eine Gratwanderung, könnte man sagen. Wobei man nie genau weiß, wo der Grat eigentlich liegt. Ganze Menschenmassen wie in Europa treibt es in Russland deshalb höchst selten auf die Straße. Gut, in Russland von „Demonstrationen“ in zu sprechen, das gehört in das Reich der maßlosen Übertreibungen; eine Ansammlung weniger Menschen, die schüchtern und verängstigt ihre Meinung kundtun trifft es da schon eher.

Und damit sind wir schon bei dem Ereignis angekommen, das einen Eintrag in diesen Blog verdient: Der Tag der Arbeit, in russischen Gefilden offiziell „Tag des Frühlings und der Arbeit“ genannt. Im Übrigen ist die russische Bezeichnung äußerst irreführend: Erstens ist Irkutsk seit einem heftigen Schneesturm vor zwei Tagen (dazu später mehr) wieder strahlend weiß (von Frühling kann also keine Rede sein) und zweitens haben die Veranstaltungen zum heutigen Tag der Arbeit so viel mit Arbeit und Solidarität zu tun, wie hier als „italienischer Wein“ verkaufter Wein mit – richtig – Italien.

Jedenfalls war heute in Irkutsk – wie jedes Jahr am Ersten Mai – eine Demonstration angesetzt, die, wie passend, ausgehend vom „stadion trud“ – dem „Stadion der Arbeit“ (die Variante „Stadion der Mühen“ gefällt mir besser) über die Lenin-Straße und den Kirow-Platz zum Ewigen Feuer (Denkmal zu Ehren der gefallenen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs) ziehen sollte.

Auch ich wollte daran teilnehmen.

Ja, ich wollte auch mitmarschieren. Banner halten und Fahnen schwenken, Parolen skandieren, klatschen, brüllen und pfeifen.

Am heuten Morgen war mein Ziel allerdings nicht die offizielle „demonstrazija“, sondern eine von Studenten und anderen freiheitsliebenden Köpfen als Gegenveranstaltung geplante „monstrazija“. Zur Erklärung: Eine „Monstration“ dient jenem Zweck, Slogans und Ziel einer parallel stattfindendenden Demonstration „künstlerisch“ aufzubereiten. Seit der ersten Veranstaltung dieser Art in Nowosibirsk vor sechs Jahren finden „Monstrationen“ alljährlich am Ersten Mai in zahlreichen russischen Städten statt – darunter seit drei Jahren auch in Irkutsk.

Ich spazierte also heute kurz vor elf Uhr am Stadion der Arbeit, vor dem sich schon hunderte Teilnehmer versammelt hatten, vorbei und hielt auf den vereinbarten Treffpunkt der „Monstranten“ neben dem Stadttheater zu. Seltsamerweise schwenkte ein Großteil der wartenden Menschen, die Banner mit Sprüchen wie „Gegen die Teuerung“ in die Höhe hielten, mit der anderen Hand Flaggen mit dem Parteisymbol von „Jedinnaja Rossija“ (Geeinigtes Russland) – der Regierungspartei. Das sagt mehr als tausend Worte, dachte ich mir.

Am Stadttheater angekommen, drückte mir sogleich Mascha, eine russische Freundin, mein Plakat in die Hand: „Aktiwirujetje ugol‘!“ war darauf zu lesen. „Aktiviert die Kohle!“ Zur Erklärung: Dieser Spruch kann auf zwei Weisen interpretiert werden. Erstens wurde hiermit schon des Öfteren eine Erhöhung der Kohlefördermenge verlangt; zweitens (und das amüsierte mich) kann man darunter auch den Aufruf, Aktivkohle zu produzieren, verstehen. Gut, um ehrlich zu sein, fand auch ich einige der anderen Sprüche und Slogans witziger: „Und ich bin keine Wassermelone!“, „Lacht öfters, solange die Zähne noch da sind!“, „Für gratis Maniküre!“, „Gebt den Tauben Körner!“, „Ich will DAS!“ und „Olympia 2034 in Irkutsk“. Das Plakat mit letzterem Spruch hängte sich übrigens der Besitzer des größten Irkutjaner Nachclubs um den Hals – und das in voller Langlaufmontur und auf Langlaufskiern.

Auch ich hielt mein Plakat entschlossen in die Höhe, als wir in Richtung Stadion der Arbeit loszogen. Zuvor hatte uns Mischa, der Organisator, noch eindringlich darauf hingewiesen, weder politische noch sonstige „verfängliche“ Parolen zu skandieren, uns ruhig zu verhalten und „positiv zu sein.“

Und so marschierten wir – gut hundert meist unter-30-Jährige – mit Bannern, bunten Luftballons, Megafonen und jeder Menge positiver Energie an den Dutzenden Polizisten vorbei, die ein Auge auf die eigentliche Demonstration vor dem Stadion hielten. Das Meer aus blauen „Geeinigtes Russland“-Flaggen wirkte ein wenig irritiert ob unserer Parolen, „Hurra“-Rufe und Plakate. Die Fotografen und und Kamerateams allerdings wandten sich uns mit Freude zu.

Kurz darauf wurde Organisator Mischa von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Als sich der Strom aus blauen Flaggen, gespickt mit einigen roten Plakaten und Fahnen verschiedener Gewerkschaften, angeführt von einer Marschkapelle, in Bewegung setzte, schlossen wir uns an. Und ernten auf dem Weg zum Ewigen Feuer erheiterte und verstörte Blicke, begeisterte Zurufe und Beifall von Passanten. Am Ziel angekommen, lösten wir uns auf.

Mit Mischa ist übrigens alles Ordnung. Im schlimmsten Falle habe er eine Strafe von 1000 Rubel (25 Euro) zu zahlen, richtete er uns aus. Weitere rechtliche Konsequenzen drohten ihm nicht.

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Warum man Irkutsk lieben muss. Teil 1: Der Startschuss.

Irkutsk, Irkutsk. Ich finde, es ist an der Zeit, diese Stadt einmal in den Blog-Mittelpunkt zu rücken. Sie verdient es. Für die letzten acht Monate war Irkutsk meine Heimat – und wird es noch unfassbar kurze zwei Monate lang bleiben; diese traurige Tatsache lassen wir aber vorerst beiseite.

Irkutsk, Irkutsk. Auf den ersten Blick verliebt sich kaum jemand in diese Stadt. Um mich allerdings war es schon am ersten Tag im fernen September 2009 geschehen: Irkutsk begeisterte mich, ich zog einen Monat lang mit rosa Brille durch die Stadt und fand alles „super“. Oder mindestens „interessant“, „exotisch“, „ungewöhnlich“. Wie das „System Irkutsk“ funktioniert, das verstand ich damals noch nicht.

Um jetzt keinen falschen Eindruck zu erwecken, ich liebe diese Stadt noch immer. Noch nie hat mich ein Ort so in seinen Bann gezogen wie Irkutsk. Warum, das ist selbst mir noch nicht zur Gänze klar. Das „Paris Sibiriens“ ist nicht atemberaubend schön (den Atem raubt einem höchstens der Smog), bei weitem nicht effizient verwaltet und wartet auch sonst mit wenigem auf, was nach euopäischer Definition eine lebenswerte Stadt auszeichnet.

Dieser heutige Eintrag soll – soweit mein Plan – der Startschuss sein für eine ganze Serie an Artikeln über Irkutsk. Es gibt viel zu erzählen, einiges zu kritisieren (das fällt als Beobachter immer äußerst leicht) und vieles zu erklären. Zunächst geht der Ball aber an euch, liebe Leserinnen und Leser. Was interessiert euch, worüber soll ich schreiben? Ich habe (selbstverständlich) schon eine Reihe von Ideen im Kopf. Dennoch warte ich auf Anregungen eurerseits. Ich warte.

Überwintert und aufgetaut in Sibirien – die Bilder

Nach dem gestrigen Eintrag, einer Bleiwüste ähnlich, gibt es heute etwas leichtere Kost. Ich habe die besten Fotos, die ich von Mitte Januar bis gestern geschossen habe, ausgewählt und schicke sie auf diesem Wege bunt gemischt zu euch.

Noch ein kleiner Nachtrag zum letzten Artikel: Dima ist da. Gestern Abend kam er an. Und fuhr heute, nach einer Sitzung im Grauen Haus (Sitz der Regionalverwaltung), über saubere und reparierte  Straßen und vorbei an frisch gestrichenen Zäunen und Fassaden in das Stadtviertel Akademgorodok und besichtigte dort einen Innenhof. Klingt spannend. Auf jeden Fall war Dima angetan von der Sauberkeit und Aufgeräumtheit sowohl der Stadt, als auch des Innenhofes. Was bin ich erleichtert, dass der Präsident Irkutsk in guter Erinnerung behält. Ob er den Brandgeruch von einem in Flammen stehenden alten Holzhaus (was hier übrigens regelmäßig „passiert“) im Zentrum bemerkt hat? Ob ihm mulmig zumute war, als er durch das Akademgorodok schlenderte, wo seit Dezember (und die Zahlen schwanken) zwischen 5 und 18 Menschen von zwei mittlerweile inhaftierten 18- und 19-jährigen Verrückten mit einem Holzhammer erschlagen wurden? Ich hoffe nicht. Gott sei Dank war alles porjadotschno. Ordentlich.

Ach, und wieder bin ich abgedriftet. Das sollte ich mir abgewöhnen. Nun denn, im Folgenden die Bilder.

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Aufgetaut

Seit einiger Zeit schon schreibe ich an diesem Eintrag, der euch gerade über den Bildschirm flackert. Ich habe ihn umgeschrieben, ich habe gelöscht und hinzugefügt. So wirklich schaffte ich es nicht, meine Gedanken in Worte zu fassen. Es ist, und dabei stimmt ihr mir womöglich zu, doch immer dasselbe: Sind Gefühle zu stark, so fällt es schwer, sie auszudrücken. Ob himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, das Ergebnis eines jeden – wenn auch nur annähernd – literarischen Ergusses ist ein Fall für die Taste rechts oben.

Im meinem Fall handelt es sich natürlich (und daran habt auch ihr, liebe Leser, wohl keine Sekunde gezweifelt) um himmelhochjauchzende Freude. Ich fühle mich derzeit in etwa so, wie ein Steak, das nach langer Zeit in tiefgekühltem Zustand aufgetaut wird. (Anm.: Dieser Vergleich bestätigt übrigens die Aussage einiger Freunde, dass meine auf Essen und alles Kulinarische fixierte Lebenseinstellung beängstigende Ausmaße annimmt.) In der Tat hat der Frühling Irkutsk schon längere Zeit in fester Hand. Während der europäische Teil Russlands seit Wochen im nassen, kalten Grau sitzt, genießt der gesamte südliche und südöstliche Teil Sibiriens Sonne und Wärme.

Mein Alltag spielt sich dieses glücklichen Zufalls wegen seit einiger Zeit auf der Straße ab. An den Wind, der plötzlich nicht mehr schneidend war und schmerzte, sondern sanft und lau, musste ich mich gewöhnen. Ebenso an das Gefühl, leicht bekleidet, ja sogar im T-Shirt durch Irkutsk zu spazieren.

Welch eine Freude, als vor eineinhalb Monaten auf den Thermometern der Stadt das erste Mal das Minus vor der Zahl verschwand. Bleiche Menschen strömten auf die Straßen, schlenderten durch die Innenstadt und spazierten an der Uferpromenade entlang. Die Mützen verschwanden, der Pelz ebenso. Die Röcke der Damen wurden kürzer – und die Absätze höher.

Die Pfützen und die reißenden Ströme, in die sich so manche Straße verwandelte, taten der Freude über die zaghaften Plusgrade keinen Abbruch. Ebensowenig der Schlamm, der Dreck und der Müll, monatelang gefroren und von Schnee bedeckt, nun mit dem Tauwetter zum Vorschein kamen. Und das Geräusch von Regen, das ich seit Oktober nicht mehr gehört hatte, ja das vernahm ich in einer Nacht vor einigen Tagen. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich je zu Hause so über das Trommeln von Regentropfen gefreut zu haben.

Es scheint, als würde all die Energie und Lebenslust, die der lange Winter erstarren hat lassen, mit einem Mal frei. Es wird gejoggt, geradelt (Chapeau vor den Wagemutigen, die sich in den Irkutsker Verkehr stürzen), gesungen, getanzt – oder einfach in der Sonne gelegen – überall grinsende, manchmal leicht angeheiterte  und nicht mehr allzu bleiche Gesichter. Frühling in Sibirien macht Spaß.

Anders, aber dennoch unvergesslich war der Winter in Irkutsk. Es war einzigartig, mein Leben in der Tiefkühltruhe. Ich habe sie verflucht und geliebt, die Kälte. Die gefrorenen Nasenhärchen, die verklebten Augenwinkel und die taube Nasenspitze; das weiße Irkutsk, ganz von Raureif und Schnee bedeckt und von der tiefstehenden Sonne beschienen; die Angara, ihre frostigen Dampfwolken und der Baikalsee, der mystisch vor sich in dampft – all diese Bilder werde ich nie vergessen. Und gleichzeitig vermissen.

Ich war auf Langlaufskiern unterwegs, bei -25 Grad. Ich bin durch den Wald gejoggt, bei -28 Grad. Ich war eislaufen, bei -29 Grad. Ich bin durch die Stadt geschlendert, bei -35 Grad. Und ich bin den kurzen Weg von einer Bar zum Taxi gelaufen, bei -39 Grad. Ich habe überwintert.

Lange hat er auf sich warten lassen, der sibirische Winter. Der Herbst war viel zu warm. Dann aber, Ende November kamen Eis, Schnee und Kälte. Schon Mitte Dezember rutschte das Thermometer in Richtung -40 Grad. Eine ganze Woche lang bibberte Irkutsk bei Temperaturen zwischen -40 Grad nachts und -30 Grad tags. Als es dann von einem Tag auf den anderen um 20 Grad wärmer wurde, fühlte sich es wie Sommer an. Wirklich.

Nun aber hat sich Väterchen Frost verabschiedet. Mit ein wenig Wehmut blicke ich ihm nach. Wenn ich dieser Tage bei gut 20 Grad plus in der Sonne am Ufer der Angara sitze, kann ich es kaum glauben, noch vor ein paar Monaten bei Temperaturen von unter minus 30 Grad an genau derselben Stelle gestanden zu haben.

Die Straßenarbeiter, die damals noch fleißig und äußerst gründlich (was mit einem Eintrag schon gehuldigt wurde) Schnee, Reif und Eis von Straßen, Plätzen und Gehsteigen entfernten, sind nun dabei zu harken, zu kehren, zu streichen und zu putzen. Besonders in den letzten Tagen war eine ganze Armada von Männern und Frauen in Orange in der Stadt unterwegs. Geländer und Fassaden wurden neu gestrichen, Bäume und Sträucher geschnitten, Straßen neu asphaltiert. Wer allerdings glaubt, dass alleine der Frühling die Stadtverwaltung zu diesen unglaublichen Taten treibt, der irrt.

Dima kommt. Dmitrij Medwedjew, der russische Präsident, weilt derzeit in Hongkong und legt auf dem Rückweg nach Moskau einen Zwischenstopp in Irkutsk ein. Wann genau, ist unklar. Und wie es in Russland üblich ist, wird vor einer präsidialen Visite alles, das an der geplanten Route des hohen Gastes liegt, auf Hochglanz gebracht. Oberflächlich, zumindest. Der erste Eindruck zählt.

Apropos Eindrücke (der guten Überleitung willen): Fotos zur visuellen Bekräftigung und Bestätung, wie Spätwinter und Frühling in und um Irkutsk aussehen, folgen in Bälde.

Ausgewählte Besonderheiten der vergangenen Festtage in Irkutsk. Oder wie ich sie begangen habe.

Es ist viel Zeit vergangen, als ich das letzte Mal einen Eintrag durch den Äther zu euch, meine Leser und Leserinnen, geschickt habe. In jenen drei Wochen ist viel passiert. Beeindruckendes, Bemerkenswertes und Schönes. Das erste Mal in meinem Leben habe ich Weihnachten und Silvester in Russland gefeiert – und diesem ersten Mal werden in Zukunft hoffentlich noch weitere Male folgen.

Als Erstes wünsche ich euch (verspätet, aber doch) frohe Weihnachten und ein ebenso frohes neues Jahr. Auf dass ihr weiterhin fleißig meinen Blog verfolgt – und geduldig auf neue Einträge wartet. Die wird es in Zukunft wohl häufiger geben: ein Neujahrsvorsatz von mir ist nämlich jener, die wochenlange Funkstille ein wenig zu verkürzen und mehr zu schreiben. Was ich mir dann aber wünsche (seht es als Weihnachtsgeschenk an mich), sind mehr Kommentare, Anregungen und Kritik. Was irritiert euch, was gefällt und was nicht? Worüber möchtet ihr mehr erfahren und welche Themen kamen bislang in diesem Blog überhaupt nicht zum Zug? Brecht das Schweigen.

Zweitens: was tut sich in Irkutsk? Nichts, derzeit. Die Stadt erholt sich von den Neujahrsfeiern und bereitet sich auf das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar vor. So kommt es, dass der erste offizielle Arbeitstag sowohl in Irkutsk, als auch im restlichen Russland, der 11. Januar ist. Ganze zehn Tage steht nicht nur eine Stadt, nein, ein ganzer Staat still. Objektiv betrachtet ist dies volkswirtschaftliches Fiasko, andererseits werden die ersten Tage des neuen Jahres, an denen wenige arbeiten, viele aber umso mehr essen, trinken und sonstigen russischen Freizeitbeschäftigungen nachgehen, als Teil der nationalen Identität angesehen. Jedenfalls ist es ungewöhnlich ruhig in der Stadt. Keine Staus, keine Hektik, rundherum zufrieden-gesättigt-erschöpfte Gesichter. Überall in der Stadt verstreut stehen Weihnachtsbäume im unverkennbaren russischen Stil, ähnlich bunt und kitschig sticht die Weihnachtsbeleuchtung ins Auge. Nach unzähligen Jahrzehnten der Finsternis folgen eben naturgemäß Jahre des exzessiven Zurschaustellens der neuerlangten Freiheit. Dies äußert sich nicht nur im extravaganten Schmuck von Weihnachtsbäumen und ähnlichem, sondern auch im Erscheinungsbild vieler russischen Frauen, in der Farbe einiger Autos (Stichwort: rosa) und in den Klingeltönen russischer Handys, die so gut wie immer im lautesten Club-Mix losplärren.

Aber genug über die Besonderheiten des „russkij stil'“. Es gibt auch ansprechendere Seiten der Weihnachtszeit. Die vielen Eisskulpturen, die bei weitem schöner anzusehen sind, als jeder wild vor sich hinblinkende überdimensionale Weihnachtsbaum, zähle ich dazu. Die gefrorenen Skulpturen, Nachbildungen bekannter Bauwerke und Rutschbahnen sind ein Tribut an den Winter, der hier in Sibirien richtiggehend zelebriert wird; er wird geliebt. Dies ist mehr als begreiflich: Väterchen Frost bedeckt alles mit einer weichen weißen Schicht, er verdeckt den Schmutz, den Müll, alles Schlechte. Und bringt eine seltsame Stille mit sich. Da werden auch die grimmige Kälte und taube Gliedmaßen bereitwillig in Kauf genommen.

Drittens: was hat sich bei mir zu Weihnachten und zu Silvester getan? Einiges. Weihnachten habe ich unter einem echten sibirischen Weihnachtsbaum im Studentenheim mit meinen Studienkollegen und russischen Freunden gefeiert. Das etwas zerzaust und nackt aussehende Prachtexemplar einer Tanne (?) habe ich mit einer französischen Kommilitonin übrigens nach einstündiger Suche bei -30 Grad aufgestöbert, gekauft und in einem völlig überfüllten Bus zur Belustigung der Passagiere und des Fahrers nach Hause transportiert. Es hat sich gelohnt. Und tatsächlich kam bei Lasagne, Schnecken und foie gras aus Frankreich, Soljanka, diversen Salaten, jeder Menge Süßem und Glühwein Weihnachtsstimmung auf. Die allerdings um Mitternacht abrupt und rüde vom Wachpersonal des Heims unterbrochen wurde; die schlechte Gemütslage war aber nur von kurzer Dauer – wir setzten die Feier kurzerhand in der Wohnung einer Freundin im Zentrum bis zum Morgengrauen fort.

Zu Silvester schließlich musste ich meine Auffassung relativieren, dass wir Südtiroler unschlagbar viel und lange essen und danach ausgiebig feiern. In Russland ist es eine kulinarische Orgie, die sich – wie in meinem Fall – nicht nur auf einen Abend beschränkt, sondern sich gut und gerne noch einige Tage hinziehen kann. Selten zuvor habe ich solche Massen an Ess- und Trinkbarem gesehen. Zum russischen „nowyj god“ („Neujahr“) wird alles aufgeboten, das nahrhaft (die verbrauchten 2 Kilogramm an Mayonnaise sprechen für sich) und vor allem unglaublich wohlschmeckend ist. Ins neue Jahr gerutscht bin ich im Übrigen nicht in Irkutsk, sondern in Baikalsk am Baikalsee – zusammen mit einigen Kommilitonen und Kommilitoninnen und russischen Freunden. Es war einmalig, im metertiefen Schnee am Ufer des Baikals zu stehen, die Feuerwerke zu betrachten und dem See beim Zufrieren zuzusehen. Ein Dank noch einmal an Julja, Stas, Alisa und Dascha für drei unvergessliche Tage.

Soweit die neuesten Nachrichten von mir. Und ich wiederhole mich: Ein frohes Neues. Bleibt mir gediegen.

 

Minus vierzig, minus dreißig. Und irgendwo dazwischen.

In dieser Temperaturspanne bewegt sich momentan das Leben in Irkutsk. Es hastet, um es präziser zu beschreiben. Es eilt von einem warmen und wärmenden Punkt zum nächsten. Die Schritte sind schneller als gewohnt, der Kopf geneigter, Mütze und Kapuze tiefer.

Es ist ein eigenartiges Gefühl. Verlässt man die Wärme, ist es, als liefe man gegen eine eiskalte Wand. Sie kriecht, die Kälte. Langsam, aber beständig bahnt sie sich ihren Weg durch unzählige Lagen an Kleidung. Und kommt schließlich auf der nackten Haut an. Die Finger werden klamm, die Oberschenkel taub, das Gesicht brennt. Es hat einen masochistischen Beigeschmack, sich dem auszusetzen. Doch es gefällt.

Die Uferpromede der Angara, der Gagarin-Boulevard, ist leer. Keine Menschenseele begegnet mir. Die Schöne lässt bei unter -30 Grad ihren Wasserdampf hunderte Meter weit in den stahlblauen Himmel steigen. Sie teilt die Stadt in zwei Hälften, getrennt durch eine breite weiß-graue Nebelwand. Selbst die Sonne kommt nicht dagegen an. Ich bewege mich in diffusem, fahlem Licht, ab und an jagt ein Nebelfetzen an mir vorbei. Der Wasserdampf, er legt sich über alles. Die Bäume, Häuser, Kirchen und Statuen sind weiß, bedeckt von einer dicken Schicht an Raureif.

Auch die Wartenden an den Bushaltestellen stoßen lange weiße Fahnen aus. Sie stieren auf die Straße, gegen die Fahrtrichtung. Unablässig kommen Busse, marschrutki und Straßenbahnen an und fahren wieder ab. Eisblumen zieren die Fenster an den Seiten. Der Wind schneidet mir ins Gesicht. Wie alle anderen halte ich mir die rechte Hand schützend vor Mund und Nase und gehe zügig weiter.

„Junger Mann!“, vernehme ich von der Seite. Ich drehe mich um und sehe einen älteren Herren, der, die Autotür geöffnet, auf mich deutet und mir zuruft: „Ihre Nasenspitze ist ganz weiß. Bewegen Sie sich schleunigst ins Warme!“ Ich, perplex ob der Situation, befühle meine Nase. Ich spüre nichts. „Vielen Dank, sehr freundlich!“, schreie ich zurück und ziehe mir augenblicklich meinen Schal bis auf Augenhöhe.

Einige Zeit später sitze ich in der marschrutka und fahre über die Alte Brücke durch die Nebelschwaden der Angara nach Hause. „Es ist schon ein wenig kalt heute, stimmt’s“, ruft eine betagte Dame neben mir dem Fahrer zu. „Stimmt“, antwortet er. „Aber so soll es doch sein“, fährt sie mit einem Lächeln im rot glühenden Gesicht fort, „es ist doch Winter.“ Der Fahrer nickt. „Heute Morgen habe ich 20 Minuten auf die marschrutka gewartet. Bei minus 37 Grad!“, führt sie den einseitigen Dialog fort. „Aber wissen Sie, so schlimm war es gar nicht!“ Wieder nickt der Fahrer. „Die Moskauer, ja, die Moskauer, die sollte man alle einmal nach Sibirien verpflanzen!“ Ihre Gesichtszüge wurden resoluter. „Uuuuuh, heute hat es minus 20 Grad! Schrecklich! Ein Albtraum!“, äfft sie und legt mit passender Mimik und Gestik noch einen Scheit nach. Die marschrutka lacht. Und ich drücke dem Fahrer zwölf Rubel in die Hand, steige aus und atme nach einem Lacher die frostige Luft ein.

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Das Debut der Kälte. Und was sie kann.

Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn die eingeatmete Luft die Nasenhaare gefrieren lässt. Ein wenig klebrig fühlt es sich an. Und frostig.

Ich erlebe derzeit die Anfänge des echten sibirischen Winters. Nachts rutscht das Thermometer nun häufig unter die -20-Grad-Marke und auch tags denkt man mit Wehmut an einstellige Minuswerte zurück. Ungeachtet dessen verläuft der Alltag hier in gewohnten Bahnen: es wird spaziert, gejoggt, jegliche Ware auf der Straße feilgeboten und geduldig auf Busse und marschrutki gewartet. Es wird gebaut, geschaufelt und Eis gegessen. Alles, was sich geändert hat, ist die Bekleidung. Miniröcke sind – bis auf wenige respekteinflößende  Ausnahmen abgesehen – Pelzmänteln gewichen, Mützen in allen erdenklichen Formen und Farben, aus Pelz oder gestrickt, prägen das Bild und das gewohnte hochhackige Schuhwerk der Damen wurde mit Pelz und hohem Schaft wintertauglich gemacht.

Es dampft aus Gullys, Fernwärmerohren, Auspuffen und Mundöffnungen. Alles gefriert. Außer die Angara. Der breite Strom, der das Zentrum Irkutsks in einem weiten Bogen umfließt, lässt seine Dampfwolken meterhoch in den Himmel aufsteigen und bedeckt ufernahe Pflanzen und Gebäude mit einer Schicht Raureif. Es hat etwas dämonisch-schönes, wenn man am Ufer der „krasawiza Angara“ (Angara die Schöne) steht und die wabernden Nebelschwaden beobachtet. Es ist ein träger Höllensud, der seine Umgebung zusammen mit der fahlen Sonne in diesiges Licht taucht und unwirklich erscheinen lässt. Der Grund dafür ist jedoch völlig irdischer Natur: bedingt durch den Staudamm gleich an der südlichen Stadtgrenze, der die Angara bis zum Baikalsee aufstaut, wird relativ warmes Tiefenwasser (in der Regel vier Grad plus) in den eigentlichen Fluss abgelassen. Auf seinem Weg durch Rohre und über Turbinen wird es noch weiter aufgeheizt. Diese überschüssige Energie gibt die Angara seit nun fast 60 Jahren Winter für Winter an die Umgebung ab. Dampfen ist schließlich das bessere Frieren.

Davon war ich bei meinem heutigen dreistündigen Streifzug durch das gefrostete Irkutsk weit entfernt. Meine Skiunterwäsche erwies mir aber einen guten Dienst. Überhaupt fühlte es sich nicht nach Stadt, sondern eher nach Skipiste im tiefsten Winter an. Was fehlte, waren lediglich betrunkene Touristen und Après-Ski. Und Skipisten an sich, natürlich. Dieses verdammte Wunschdenken.

Das vergangene Wochenende kam allerdings ziemlich nahe an den Genuss eines langgezogenen Tiefschneeschwungs heran. Es war, so meine ich, das beste Wochenende seit meiner Ankunft in Sibirien. Ich durfte eine in jeglicher Hinsicht außergewöhnliche Hin- und Rückfahrt und grenzenlose Gastfreundschaft erleben, sowie unvergesslich-verwegene Stunden in der Taiga verbringen. Aber der Reihe nach – im nächsten Eintrag.

 

Eine holprige Auslese bunten Durcheinanders

Nun ist, wie ich meine, wieder die Zeit gekommen, diesen Blog mit einem neuen Eintrag aufzufrischen. In den letzten Wochen war ich diesbezüglich ein wenig nachlässig. Da ich aber in einer Art Prüfungsstress stecke, ist der Zeitpunkt, an meinen sibirischen Anekdoten zu arbeiten, natürlich äußerst günstig und eine willkommene Ablenkung – vergleichbar mit Zimmer aufräumen, aus dem Fenster gucken, Etiketten auf Lebensmitteln lesen, sinnlose Begriffe googeln oder Däumchen drehen.

Väterchen Frost ist da. Also nicht der russische Weihnachtsmann, der kommt nämlich erst zu Silvester nach gregorianischem Kalender, sondern die sibirische Kälte; ansatzweise, wenigstens. Nach einem Schneesturm vor drei Tagen herrscht Dauerfrost. Endlich. Der September und Oktober waren viel zu warm, ich wartete sehnsüchtig auf den Schnee. Nun ist er also da. Die Schneedecke beträgt zwar lediglich einige Zentimeter und die Quecksilbersäule rutscht nur zaghaft in den zweistelligen Minusbereich – dennoch: es fühlt sich gut an. Ich freue mich, in meine mit einer Felleinlage auffrisierten Schuhe zu schlüpfen, die Mütze aufzusetzen und zu sehen, wie mein Atem gefriert. Es gefällt mir, über schneebedeckte Wege durch die Birkenwälder zu joggen, immer darauf bedacht, nicht auf dem Allerwertesten zu landen. Es fasziniert mich, wie die Angara, die Irkutsk von Süden nach Norden träge durchfließt, ruhig vor sich hin dampft und in der Sonne glitzert. Es ist ein Wintermärchen der kitschigsten Sorte.

Nun versucht mal, obigen Absatz an Gefühlsüberschwang zu überbieten.

Nicht zu überbieten sind die Irkutjaner, so scheint es mir, bei der Schneeräumung – zumindest im Zentrum. Makellos vom Schnee befreit waren sie, die Straßen und Gehsteige. Die weiße Pracht wurde dabei, wie ich beobachten konnte, fein säuberlich zu kleinen Haufen zusammengeschoben und auf Lastwagen wegtransportiert.

Nicht an Schönheit zu überbieten ist die sibirische Taiga. Am vorletzten Wochenende sprang ich spontan und im wahrsten Sinne des Wortes in der allerletzten Sekunde in die S-Bahn (in Russland als „elektritschka“ bezeichnet) in Richtung Baikalsee und stieg nach einer eineinhalbstündigen Fahrt auf halber Strecke aus. Meine Spontanität bedingte eine absolute Planlosigkeit; und die wiederum ließ mich anfangs meine Abenteuerlust bereuen. Nachdem ich aber ausgestiegen war, verließ mich dieses Gefühl rasch. Am Bahnhof von Orljonok (wie sich die Ansammlung von vier Häusern nennt) sprach mich ein Mountainbiker an und wollte wissen, wann man denn am besten nach Irkutsk zurückfährt. Ich antwortete mit einem „Weiß ich nicht“ und fügte „Ich bin ein Ausländer und kenne mich hier überhaupt nicht aus“ hinzu. So kamen wir ins Gespräch, in dessen Verlauf er mir erklärte, wohin man von Orljonok aus wandern könne und was es Interessantes zu sehen gäbe. Ich entschloss mich darauf, über zwei Bergrücken zu einer Felsformation namens „witjaz'“ („der Recke“) zu marschieren. Die Entscheidung war goldrichtig. Ich verfluchte zwar mein nicht schnee- und eistaugliches Schuhwerk, genoss die stundenlange Wanderung durch die sibirische Taiga aber umso mehr. Auf dem ersten Bergrücken angekommen, breitete sich vor mir die hügelige Landschaft des Ol’cha-Hochplateaus bis zum Horizont aus. Bäume über Bäume. Und Stille. Zugegebenermaßen blickte ich in der Art eines paranoiden Angsthasens von Zeit zu Zeit verstohlen in den Wald links und rechts des Pfades, in der Hoffnung, auf keinen Bären zu treffen. Ich kam aber noch am selben Abend wohlbehalten, unversehrt und beeindruckt nach Irkutsk zurück.

Apropos Zeit (zum Hinweis: „Zeit“ erwähne ich im vorvorherigen Satz; eine bessere Überleitung fällt mir im Moment nicht ein): Im Gebiet Irkutsk (Irkutskaja oblast‘) wird derzeit darüber nachgedacht, die Zeitzone zu wechseln. Ja, ihr habt euch nicht verlesen. Nachdem schon im vergangenen Frühjahr zwei der ehemals elf Zeitzonen in Russland abgeschafft wurden, steht die Irkutjaner Zeitzone nun auf dem Prüfstand. Nach den Plänen der hiesigen Regionalregierung würde die Irkutskaja oblast‘ sich der Zeitzone von Krasnojarsk anschließen und somit eine Stunde näher an Moskau heranrücken; der Zeitunterschied zur Hauptstadt verkürzte sich von fünf auf vier Stunden. Und das, so glaubt man, würde die wirtschaftliche Effizienz steigern. Einige Forscher der Russischen Akademie der Wissenschaften sind ebenfalls dafür: mit dem geplanten Zeitzonenwechsel würde die Uhrzeit der wirklichen inneren Uhr der Irkutjaner entsprechen. Der Antrag dafür liegt nun im Kreml auf. Wird er genehmigt, könnten die Zeiger in Irkutsk schon im kommenden Frühjahr auf UTC+7 bzw. die Krasnojarsker Zeit umgestellt werden. In der benachbarten autonomen Republik Burjatien ist dies übrigens schon fix. Ich jedenfalls fände es spannend, behaupten zu können, von der russischen Regierung eine Stunde geschenkt bekommen zu haben.