Eine holprige Auslese bunten Durcheinanders

Nun ist, wie ich meine, wieder die Zeit gekommen, diesen Blog mit einem neuen Eintrag aufzufrischen. In den letzten Wochen war ich diesbezüglich ein wenig nachlässig. Da ich aber in einer Art Prüfungsstress stecke, ist der Zeitpunkt, an meinen sibirischen Anekdoten zu arbeiten, natürlich äußerst günstig und eine willkommene Ablenkung – vergleichbar mit Zimmer aufräumen, aus dem Fenster gucken, Etiketten auf Lebensmitteln lesen, sinnlose Begriffe googeln oder Däumchen drehen.

Väterchen Frost ist da. Also nicht der russische Weihnachtsmann, der kommt nämlich erst zu Silvester nach gregorianischem Kalender, sondern die sibirische Kälte; ansatzweise, wenigstens. Nach einem Schneesturm vor drei Tagen herrscht Dauerfrost. Endlich. Der September und Oktober waren viel zu warm, ich wartete sehnsüchtig auf den Schnee. Nun ist er also da. Die Schneedecke beträgt zwar lediglich einige Zentimeter und die Quecksilbersäule rutscht nur zaghaft in den zweistelligen Minusbereich – dennoch: es fühlt sich gut an. Ich freue mich, in meine mit einer Felleinlage auffrisierten Schuhe zu schlüpfen, die Mütze aufzusetzen und zu sehen, wie mein Atem gefriert. Es gefällt mir, über schneebedeckte Wege durch die Birkenwälder zu joggen, immer darauf bedacht, nicht auf dem Allerwertesten zu landen. Es fasziniert mich, wie die Angara, die Irkutsk von Süden nach Norden träge durchfließt, ruhig vor sich hin dampft und in der Sonne glitzert. Es ist ein Wintermärchen der kitschigsten Sorte.

Nun versucht mal, obigen Absatz an Gefühlsüberschwang zu überbieten.

Nicht zu überbieten sind die Irkutjaner, so scheint es mir, bei der Schneeräumung – zumindest im Zentrum. Makellos vom Schnee befreit waren sie, die Straßen und Gehsteige. Die weiße Pracht wurde dabei, wie ich beobachten konnte, fein säuberlich zu kleinen Haufen zusammengeschoben und auf Lastwagen wegtransportiert.

Nicht an Schönheit zu überbieten ist die sibirische Taiga. Am vorletzten Wochenende sprang ich spontan und im wahrsten Sinne des Wortes in der allerletzten Sekunde in die S-Bahn (in Russland als „elektritschka“ bezeichnet) in Richtung Baikalsee und stieg nach einer eineinhalbstündigen Fahrt auf halber Strecke aus. Meine Spontanität bedingte eine absolute Planlosigkeit; und die wiederum ließ mich anfangs meine Abenteuerlust bereuen. Nachdem ich aber ausgestiegen war, verließ mich dieses Gefühl rasch. Am Bahnhof von Orljonok (wie sich die Ansammlung von vier Häusern nennt) sprach mich ein Mountainbiker an und wollte wissen, wann man denn am besten nach Irkutsk zurückfährt. Ich antwortete mit einem „Weiß ich nicht“ und fügte „Ich bin ein Ausländer und kenne mich hier überhaupt nicht aus“ hinzu. So kamen wir ins Gespräch, in dessen Verlauf er mir erklärte, wohin man von Orljonok aus wandern könne und was es Interessantes zu sehen gäbe. Ich entschloss mich darauf, über zwei Bergrücken zu einer Felsformation namens „witjaz'“ („der Recke“) zu marschieren. Die Entscheidung war goldrichtig. Ich verfluchte zwar mein nicht schnee- und eistaugliches Schuhwerk, genoss die stundenlange Wanderung durch die sibirische Taiga aber umso mehr. Auf dem ersten Bergrücken angekommen, breitete sich vor mir die hügelige Landschaft des Ol’cha-Hochplateaus bis zum Horizont aus. Bäume über Bäume. Und Stille. Zugegebenermaßen blickte ich in der Art eines paranoiden Angsthasens von Zeit zu Zeit verstohlen in den Wald links und rechts des Pfades, in der Hoffnung, auf keinen Bären zu treffen. Ich kam aber noch am selben Abend wohlbehalten, unversehrt und beeindruckt nach Irkutsk zurück.

Apropos Zeit (zum Hinweis: „Zeit“ erwähne ich im vorvorherigen Satz; eine bessere Überleitung fällt mir im Moment nicht ein): Im Gebiet Irkutsk (Irkutskaja oblast‘) wird derzeit darüber nachgedacht, die Zeitzone zu wechseln. Ja, ihr habt euch nicht verlesen. Nachdem schon im vergangenen Frühjahr zwei der ehemals elf Zeitzonen in Russland abgeschafft wurden, steht die Irkutjaner Zeitzone nun auf dem Prüfstand. Nach den Plänen der hiesigen Regionalregierung würde die Irkutskaja oblast‘ sich der Zeitzone von Krasnojarsk anschließen und somit eine Stunde näher an Moskau heranrücken; der Zeitunterschied zur Hauptstadt verkürzte sich von fünf auf vier Stunden. Und das, so glaubt man, würde die wirtschaftliche Effizienz steigern. Einige Forscher der Russischen Akademie der Wissenschaften sind ebenfalls dafür: mit dem geplanten Zeitzonenwechsel würde die Uhrzeit der wirklichen inneren Uhr der Irkutjaner entsprechen. Der Antrag dafür liegt nun im Kreml auf. Wird er genehmigt, könnten die Zeiger in Irkutsk schon im kommenden Frühjahr auf UTC+7 bzw. die Krasnojarsker Zeit umgestellt werden. In der benachbarten autonomen Republik Burjatien ist dies übrigens schon fix. Ich jedenfalls fände es spannend, behaupten zu können, von der russischen Regierung eine Stunde geschenkt bekommen zu haben.

4 Gedanken zu „Eine holprige Auslese bunten Durcheinanders

  1. Ich kenne noch jemanden, der sehnsüchtig auf Schnee wartet. Liegen in der Sonne, bei gefühlten 20 °C, ist zwar auch nicht schlecht aber gegen ein weißes Christkindlmarkteinweihen könnte niemand etwas einwenden. Mhh….. Glühwein, Punsch und Co. ……

  2. Und er schmilzt wieder, der Schnee. Tragisch, aber wahr. In den Wetterprognosen habe ich aber gerade eben die Zahl 25 gesehen – mit einem Minus davor. Das wär dann auch kalt genug für einen глинтвейн. 🙂

  3. lieber fritz!

    wie du schon festgestellt hast, eignen sich blogs wunderbar, um die prüfungsvorbereitungen zu umgehen – ich lese, du schreibst 🙂 ich bin schon seit einiger zeit dabei, mich durch deine erlebnisse durchzuwühlen und muss überrascht feststellen, dass du irkutsk näher bringen kannst, als ich mirs je vorstellen hätte können. schafft sogar eine art von fernweh, wie du da schreibst!

    zu diesem beitrag möchte ich einen absoluten kniefall vor der irkutischen schneeräummannschaft zum ausdruck bringen – ich habe die letzten wochen damit verbracht, mich über die unfähigkeit der salzburger zu ärgern. kommt es daher, dass wir den schnee „nicht gewöhnt“ sind? kaum schneit es, hat alles verspätung, es kommt zum chaos und kein mensch kennt sich mehr aus. und so etwas wie organisiertes räumen gibts anscheinend nicht. kannst du vielleicht mal erfragen, nach welchem system das in irkutsk funktioniert? ich bin mir sicher, da können wir noch einiges abschauen!

    schöne grüße ins land der unendlichen weiten-
    minnie

    ps: hast du eigentlich mal „endstation taiga“ gelesen? das haben wir gerade durch, es bepackt den mythos des wunderschönen landes mit einem seltsam makabren grauen 😀 nichtsdestotrotz – genieß dein exil weiterhin!

  4. Minnie, guten Morgen!

    Es freut mich, dass ich dich erfolgreich vom Lernen abhalte. 🙂
    OK, ich werde mich erkundigen – obwohl ich daran zweifle, dass sich ein normaler Irkutjaner Bürger für solche Sachen interessiert und darüber mehr zu erzählen weiß.

    Aufgrund dessen, was ich bis jetzt so mitbekommen habe, kann ich dir aber schon einige Erklärungen liefern:
    1) Der Schnee hier in Irkutsk ist nicht zu vergleichen mit dem weißen Patzen, der bei uns fällt – er ist viel leichter und luftiger, deshalb auch einfacher zu beseitigen.
    2) In Irkutsk fällt nie viel Schnee auf einmal, sondern immer nur ein bisschen. D.h. eine Nacht 5 cm, die nächste Nacht 5 cm usw…
    3) In Irkutsk werden nur die Hauptstraßen geräumt – nicht so wie bei uns, wo der Schneepflug bis in den letzten Winkel fährt. Spikes sind, anders als bei uns, erlaubt; deswegen stellen Schneefahrbahnen auch kein besonderes Risiko dar. Und die Stadt erspart sich einiges an Räumungskosten.
    4) Irkutsk ist erfahren im Schneeräumen. Mich fasziniert es immer wieder, wie koordiniert die Räumung vonstattengeht. Außerdem stehen hier in der Stadt dafür bei Weitem mehr Fahrzeuge und vor allem Arbeiter und Arbeiterinnen zur Verfügung, als bei uns.

    Nein, „Endstation Taiga“ habe ich noch nicht gelesen. Werde ich aber im Sommer nachholen – schon alleine der Titel macht neugierig.
    So, ich leih mir jetzt Langlaufausrüstung aus, mach mich auf in Richtung Stausee und werde dort ein paar Runden drehen.

    LG aus der Tiefkühltruhe.

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